Wer heute am Rand der mit Sträuchern überwucherten Mulde steht, wo einst das Tannenberg-Denkmal stand, braucht viel Fantasie, aber auch Wissen, um sich vorstellen zu können, was hier einmal war. Jürgen Ehmann hat in jahrelanger historischer Fleißarbeit alles auffindbare Wissen zusammengetragen – selbst die letzten noch lebenden Zeitzeugen befragt -, um die kurze Geschichte dieses bedeutenden Monuments zu dokumentieren.
Das Denkmal war ‚groß‘ im Sinne von ‚bedeutend‘. Unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg kam unter den Ostpreußen der ehrliche Wunsch auf, der Dankbarkeit für die Rettung ihrer Provinz durch ein Denkmal Ausdruck zu verleihen und gleichzeitig denjenigen, die in der Tannenberg-Schlacht ihr Leben verloren hatten, einen würdigen Erinnerungsort zu schaffen. Dieses Anliegen fand in ganz Deutschland viel Zustimmung. Über die Ästhetik des Monuments mag sich jeder selbst seine Meinung bilden. Sie ist subjektiv und unterliegt nicht objektiven Maßstäben.
Die Geschichte des Denkmals ist ‚klein‘ im Sinne von ‚kurz‘. Dieses wuchtige, an eine mittelalterliche Burg erinnernde Bauwerk stand nicht einmal 18 Jahre. Denn schon wenige Jahre nach seiner Einweihung traten die Nationalsozialisten die Herrschaft über Deutschland und damit auch über das Tannenberg-Denkmal an. Geschickt verstanden sie es, den Mythos von Tannenberg und die große Beliebtheit Hindenburgs für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Im Sinne eines historischen Determinismus konstruierten sie eine Kontinuität, wo keine war. Aus heutiger Perspektive ist die Verlogenheit des Regimes hinter Hitlers theatralischen Auftritten im Denkmal leicht zu durchschauen. Aber die damaligen Menschen folgten ihm und – bis auf wenige Ausnahmen – erkannten sie nicht, dass er Verderben über die Völker und für Ostpreußen das Ende bringen würde.
Das Erstlingswerk von Jürgen Ehmann richtet sich weniger an eine kunsthistorisch oder architektonisch interessierte Leserschaft. Vielmehr erzählt der Autor prägnant und zugleich lebendig die Geschichte des Denkmals, die bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg beginnt und mit dem Untergang Ostpreußens endet. Dabei beschränkt er sich auf das Wesentliche, so dass sein Buch lediglich 88 Seiten umfasst. Ins Detail geht er nur dann, wenn es die Sache erfordert. So versucht er am Ende mit geradezu kriminalistischem Elan aufzuklären, wie die Hindenburgsärge in den Wirren des Frühjahres 1945 in den Westen gelangten, und in welchem Zustand das Denkmal am und nach dem Ende des Krieges war. Der Text wird durch zahlreiche, bislang weitgehend unbekannte Fotos illustriert.
In einem einleitenden Kapitel informiert der Historiker Dr. Uwe Dempwolff umfassend und gut verständlich über die Schlacht bei Tannenberg. Sinnvollerweise wird diese Darstellung durch eine Lagekarte veranschaulicht, so dass die militärischen Bewegungen nachvollziehbar und verständlich werden.
Nur wenige Wochen vor dem zweiten Weltkrieg fiel in dem Denkmal der Satz: „Nach Tannenberg gehen, heißt deutsche Geschichte begreifen!“ Dieser Satz gilt – wenngleich in einem ganz anderen Sinne als vom damaligen Redner gemeint – auch heute noch. Wer das nötige Wissen über die kurze Geschichte dieses bedeutenden Denkmals hat, spürt, dass die mit Sträuchern überwucherte Mulde ein Ort ist, an dem sich Geschichte verdichtet – ein Ort, der die ganze Tragik des 20. Jahrhunderts widerspiegelt.
Ohne die unvoreingenommene Erinnerung an die Vergangenheit ist es nicht möglich, eine Zukunft zu gestalten, in der die Menschen in Frieden zusammenleben. Mögen wir Nachgeborenen aus der Geschichte dieses Denkmals die richtigen Lehren ziehen.
Burghard Gieseler
Das Tannenberg-Denkmal, Die kleine Geschichte eines großen Monuments, Jürgen Ehmann, Kreisgemeinschaft Osterode Ostpreußen (Hrsg.), Leer 2022, ISBN-Nr.: 978-3-00-072342-1, 88 Seiten, Hardcover, Preis 14,90 EUR zzgl. Versandkosten, erhältlich über: Kreisgemeinschaft Osterode Ostpreußen, Bergstraße10, 37520 Osterode am Harz, oder: Tannenberg-Denkmal@web.de