Auf den Wegen zur Kernsdorfer Höhe

von Ernst Hartmann

Von unserem Standort, der idyllisch am Ufer des Drewenz-Sees gelegenen Kreisstadt Osterode, unternehmen wir eine weiter ausgedehnte Landpartie in Ostpreußens höchstes Bergland. Die Eisenbahn führt uns über Bergfriede nach dem kleinen, unmittelbar an der Grenze der altpreußischen Landschaft Löbau liegenden Ort Haasenberg. Eine 1903 im Dorfgebiet gefundene Pflugschar aus Stein bezeugt, daß die Flur von H. schon vor einigen tausend Jahren in Kultur genommen wurde. In der frühesten Besiedlungszeit dieser Gegend, nämlich noch vor 1335, erhielt Hans von Hasendamerau die 40 Hufen zu Haasenberg verschrieben mit der Auflage, dem Deutschen Orden dafür als Landmesser zu dienen. So setzte sich denn in dieser weltabgeschiedenen Gegend der erste bekannte Landmesser des Ordensstaates fest. Es ist anzunehmen, daß er es war, der die 1440 Hufen oder 86 400 Morgen ausgemessen hat, die der Orden 1321 an einige Edelleute in der Nähe austat. Es war der größte Landkomplex, den der Ritterorden überhaupt in seinem aufblühenden Staat geschlossen verliehen hat.

Im 15. Jahrhundert waren einige preußische Freie in Haasenberg ansässig. 1539 bat der Gutsherr Albrecht Finck, eine Ahne der Finde von Finkenstein, den Herzog Albrecht, die Freien zu Haasenberg „auskaufen“ zu dürfen. Es wurde ihm gestattet, und vier Jahre danach hatte er bereits als ersten Anteil 7 1/2 Freihufen in seine Hand gebracht.

Wir sehen uns noch das auf alten Grundmauern im 19. Jahrhundert errichtete Gutshaus in Haasenberg an und wandern dann etwa einen Kilometer weit südwärts am Grießlerbach lang (1303 = Griselaucs; 1338 Grysla) zur Hasenberger Mühle. Vom Ufer des Mühlenteichs steigen wir rund 70 Meter eine ziemlich steile Böschung empor und befinden uns nun auf dem ehemals durch Steinwälle und Verhaue stark befestigten preußischen Burgberg. Im Volksmund hieß die Stätte „Schloßberg“; eine Urkunde von 1303, in der die Grenze zwischen den beiden preußischen Gauen Sassen und Löbau festgelegt wurde, nennt ihn „vallum Sassenpile“. Da altpreußisch pile Berg, Burg bedeutet, könnte es sich bei unserem Schloßberg um die Hauptburg der Sassen handeln. Einige Heimatforscher führen den Namen aber auf das altpreußische Wort sasins = Hase zurück und sagen, der „Hasenberg“ hätte der Siedlung Haasenberg den Namen gegeben. 1338 erscheint auch der Name Haasenberg zum ersten Male.

Funde von altertümlichen Scherben und ein tieferes Erdloch in der Mitte der umwallten Berghöhe, das zur Wasseransammlung für Belagerungszeiten diente, sagen uns, daß die Wallburg vermutlich einst auch bewohnt war.

Von der Wallkrone des Burgberges aus schauen wir noch einmal über die bewaldeten Hügel tief ins ostpreußische Land hinein und pilgern dann ostwärts weiter. In der Haasenberger Forst suchen wir den bekannten „Opferstein“ auf. Da er eine napfartige Vertiefung und zwei Rinnen aufweist, glaubte das Volk in früherer Zeit, daß auf diesem „Findling“ die Preußen ihren Göttern Opfer dargebracht hätten und umspann ihn mit sagenhaften Erzählungen. Untersuchungen haben aber ergeben, daß die Rillen und einige Vertiefungen im Zuge der Rillen von einem Versuch herrühren, nach jahrhundertelang üblicher Art den riesigen Stein mittels eichener Holzkeile zu spalten. Man trieb die Keile ein, sie saugten sich voll Wasser, das Wasser fror im Winter, und die gefrorenen Keile trieben den Steinblock auseinander.

Ein kleiner Abstecher führt uns zu der sogenannten „grünen Trift“, einem 24 Meter breiten Wegstreifen, der als ehemalige alte Grenze und zugleich Heerstraße noch erhalten geblieben ist. Ähnliche verwachsene alte Überlandwege finden sich noch häufig im Gebiet westlich der Elbe Auf dieser Trift sollen sich 1656 die ostpreußischen und brandenburgischen Truppen unter dem Großen Kurfürsten vereint haben; als Bundesgenossen der Schweden nahmen sie dann ruhmvoll an der dreitätigen Schlacht bei Warschau teil.

Unser Weg führt nun in müheloser Wanderung zur Försterei Dreißighufen. Gleich den anderen beiden Gütern im Kreis Osterode, Zehnhufen und Vierzighufen, erhielt auch Dreißighufen seinen Namen nach der Anzahl der ursprünglich verliehenen Hufen.

Im Jahre 1335 verkaufte der uns schon bekannte Hannus von Hasendamerau, der sich jetzt Hannus Messer nannte, sein Stammgut Haasenberg an seinen Schwager Konrad von der Hürde und erwarb die dreißig Hufen Land westlich von der Kernsdorfer Höhe. Von dem Gut blieb um 1750 nur noch eine unbewohnte Wüstung zurück, auf der nun 1820 eine „adlige Försterei“ eingerichtet wurde. Das Kulturland musste also wegen geringer Rentabilität dem Wald weichen.

Vor uns sehen wir nun das sich drei Kilometer lang hinstreckende Dorf Kernsdorf, mit durchschnittlich 300 m Höhe der höchstgelegene Ort Ostpreußens. Man speilzahnte früher, daß der Lehrer von Kernsdorf doch der höchste Beamte der Provinz sei. Die Siedlung Kernsdorf entstand z. T. auf dem Grund von Dreißighufen durch ein großartiges Siedlungsunternehmen der neueren Zeit. Als nämlich die Wirtschaft in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen Tiefstand erreichte und Land billig zu erwerben war, kaufte der kapitalkräftige Gerichtsdirektor Joh. Heinr. Kern verwildertes Waldland an und gab zweiunddreißig siedlungswilligen Familien aus Tharden, Glanden, Locken und vor allem aus fünfzehn Orten des Kreises Pr.-Holland Grund und Boden und erste wirtschaftliche Hilfe und hob am 24. Juni 1834 das nach ihm benannte Dorf Kernsdorf aus der Taufe. Den Kolonisten, die nach Poschmanns Bericht anfangs nur notdürftig in Erdhöhlen und Laubhütten wohnten, machte er zur Pflicht, sich später der Obstbaum- und Bienenzucht zu widmen und zu notwendigen Wolfsjagden eine Mannschaft zu stellen. Nach fünfzig Jahren aufstrebender Wirtschaft zählte man in Kernsdorf bereits 54 Gebäude, 40 Pferde, 79 Stück Rindvieh, 61 Schweine, 41 Schafe und 30 Bienenstöcke.

Von der 300-Meter-Höhe etwas abseits der Dorfstraße genießen wir nun einen herrlichen Blick auf die Stadt Gilgenburg und die sie einschließenden beiden Damerau-Seen. Noch 13 Meter höher gestiegen, und wir sind auf dem höchsten Punkt Ostpreußens, der „Kernsdorfer Höhe“, angelangt. Von hier öffnet sich der Blick auf Dt. – Eylau und die breit hingelagerten Finkensteinschen Forsten. Während wir 1920 nur auf verstohlenen Pfaden zur Bergkuppe gelangten und zwischen den Baumgruppen gute Ausblicke suchen mussten, konnte der Wanderer später auf gutem Weg hinaufgelangen und von dem 800 qm großen Aussichtsplatz mühelos die weitgedehnte Hügellandschalt zu seinen Füßen betrachten. Im Jahre 1926 errichtete man dort oben auch eine Wetterstation.

Kernsdorfer Höhen

Wir streifen nun bergab durch gut gepflegten Waldbestand, lassen die „Franzens-Höhe“ rechts liegen und gelangen zum 240 Meter hoch gelegenen „Franzosensee“ In dunklen Wald eingebettet, hat dieser höchste ostpreußische See auch seine dunkle Geschichte, der er seinen seltsamen Namen verdankt. Als nämlich im Schicksalsjahr 1807 französische Truppen auch die Dörfer um die Kernsdorfer Höhe besetzt hielten, fanden in Peterswalde einquartierte Franzosen im See die Leichen von vier Kameraden und einer französischen Frau. Der Oberst des 108. Regiments ließ nun sofort den See abfischen und dabei fand man noch dreizehn weitere Leichen. Es handelte sich wahrscheinlich um erschlagene Marodeure. Sie waren offensichtlich durch Axthiebe getötet und gefesselt im versteckt daliegenden See versenkt worden. Die Peterswalder Bauern sollten alle erschossen und das ganze Dorf niedergebrannt werden, weil die Täter nicht zu ermitteln waren. Nachdem Marschall Davout mit unverzüglicher Vergeltung drohte, konnten endlich zwei Bauern aus Peterswalde als vermutliche Täter festgestellt werden. Sie wurden nach Döhringen gebracht und standrechtlich erschossen.

Wir lenken unsere Schritte dem Dorf Peterswalde zu. Es wird bereits 1339 erwähnt. Hochmeister Winrich von Kniprode gab 1364 dem Preußen Glabotte und seinen drei Brüdern 60 Hufen zu Peterswalde. Seinem Namen nach wurde es in der ersten Siedlungsepoche ebenso wie die im Gebiet der Kernsdorfer Berge liegenden Orte Ketzwalde, Ruhwalde, Marwalde, Lehwalde, Steffenswalde, Schmückwalde, Pilgrimswalde (Steinfließ) und Schönwäldchen als Rodeort mitten in der sogenannten „Wildnis“ begründet.

Bereits im 14. Jahrhundert besaß Peterswalde eine verhältnismäßig reich ausgestattete Kirche, denn aus jener Zeit stammt ein wertvoller Schnitzaltar, den die Kunsthistoriker für wert erachteten, neben zwei mittelalterlichen Reliquienbüsten und einigen Resten anderer Ausstattungsstücke der Kirche den Sammlungen im Königsberger Schloß einzufügen.

Um 1590 bauten die Peterswalder eine achteckige strohgedeckte hölzerne Kirche im Blockbau. Neben der Kirche errichteten die zum Kirchspiel Peterswalde gehörenden Gutsbesitzer und Bauern 1615 einen freistehenden Glockenstuhl. Damit gehörte die Kirche ebenso wie die zu Reichenau, Kreis Osterode, zu den wenigen ostpreußischen Gotteshäusern, die vollständig in altpreußischer Baumanier errichtet worden waren. Den Reichenauer Kirchbau konnte man vor dem Kriege noch im ostpreußischen Freilichtmuseum sehen. Er steht auch heute noch bei Hohenstein.

Wir durchwanderten nun den östlich von Peterswalde sich ausdehnenden Gräflich Eulenburgischen Forst, in dem am 10. März 1924 der Hilfsförster Kaluza einen kapitalen Luchs erlegte, und nähern uns dem Dorf Rhein. Zwischen Peterswalde und Rhein, wahrscheinlich noch im Bednarker Revier, kannte man auch einen „Schloßberg“. Zu ihm gehörte sicher auch eine preußische Siedlung, die zwischen Peterswalde und Bednarken etwa bei Friedensthal lag, denn dort wurde vor dem Kriege von den verdienten Spatenforschern Dr. Engel (Königsberg) und Dr. Baumhauer (Osterode) ein frühgermanisches Hügelgrab aufgedeckt. Inmitten des riesigen Hügels stieß man auf eine wohlgefügte Steinkiste von 350X80 cm, in der sechzehn Urnen, Brandasche und Knochenteile gefunden wurden. Dieser germanische Erbfriedhof wird etwa 200 v. Chr. Geburt errichtet worden sein.

Eine interessante Karte aus dem 16. Jahrhundert zeigt uns das Dorf Rhein mit den zwei hölzernen Toren an den Dorfeingängen und die in lange Ackerstreifen („Gewanne“) geteilten Hufen zu beiden Seiten der Dorfanlage.

Von Rhein aus gelangen wir zuerst nach dem kleinen Ort Glanden, von dessen Einwohnern auch fünf Männer am 22. April 1807 von dessen Einwohnern auch fünf Männer am 22. April 1807 von den Franzosen standrechtlich erschossen wurden, und dann kommen wir in das große Dorf Steffenswalde. Es gehört ebenso wie das benachbarte Steinfließ zu den Ortschaften, die ihren Namen wechselten. Aus dem preußischen Ortsnamen „Sekerinen“ (1334) und „Sickerinenwangen“ (1335) wurde das nach einem Steffen benannte Steffenswalde und aus Pilgrimswalde wurde Steinfließ. Steinfließ ging im 17. Jahrhundert ein und bestand 1783 lediglich aus einer „Aschbude“.

Von Steffenswalde auf der Kunststraße weiter wandernd, gelangen wir nach Döhlau, dem Herrschaftssitz mit Schloß, herrlichem Park und Guts-Großbetrieb, inmitten einer reinen Ackerbaulandschaft gelegen. Eine nahe dem Ort gefundene bronzezeitliche Axt bezeugt, daß in dieser Gegend bereits in der Bronzezeit Menschen siedelten. Aus der bemerkenswerten älteren Geschichte des Ortes sollen nur einige Tatsachen festgehalten werden. Der Schultheiß oder Schulz von „Delaw“ verwaltete Ende des 14 Jahrhunderts nicht nur die Dorfangelegenheiten, sondern war auch wirtschaftlicher Faktor der dörflichen Gemeinschaft und hatte auch für Unterkunft und Verpflegung Durchreisender zu sorgen. In einer Urkunde von 1379 wurde nämlich bestimmt, er solle „eynen kretschim habin in dem dorfe“ und auch für Fleisch und Backwerk sorgen. (Die Bezeichnung Kretscham für Krug, Gasthaus, brachten die schlesischen Einwanderer ins Land.)

Ritter Dietrich von der Delau, der Ende des 14. Jahrhunderts die große Begüterung in seiner Hand hatte, muss ein sehr frommer Mann gewesen sein. Gemeinsam mit den angesehenen Edelleuten Ludwig von Mortangen, Lamperdus von Waplitz, Festüs von Baysen (auf Heeselicht) und Dietrich von Oschekau zog er im gnadenreichen Jahr 1400 durch Polen und Böhmen nach Rom, um im Gebet an den Gräbern der Apostel Ablaß zu erlangen.

Wir umgehen den Döhlauer Gutsbesitz und ziehen in südwestlicher Richtung auf fast schnurgerader Landstraße durch Ackerbreiten, die in guter Kultur stehen, über Vorwerk Plonchau und Siedlung Johannisberg nach Klonau. Auf diesem Wege durchqueren wir bei Johannisberg einen Waldstreifen, der sich von der Kernsdorfer Höhe nach Süden hinunterzieht. Klonau erhielt seinen Namen nach der Flurbezeichnung „Klonowa“. Als im Jahre 1717 die Grenze beritten wurde, um festzustellen, ob auch noch alle Grenzpunkte mit dem alten Grenzzug übereinstimmten, fand man diese Flur so verwachsen, daß man nicht hindurchdringen konnte. Als der Reitertrupp weiter vordrang, stieß er in der Flur „Starewies“ zwischen Bäumen und Gesträuch auf eine Stelle, „wo vormals ein Dorff gestanden“, dessen Name allerdings nicht ergründet werden konnte Der Ort Klonau war 1819 noch wüst, wurde aber bald aufgebaut und die Äcker in Kultur genommen. Vor dem letzten Kriege war das Gut Klonau im Besitz des jetzigen Kreisvertreters des Kreises Osterode, Richard von Negenborn.

Auf abwechslungsreichem Landweg gelangen wir schließlich über Georgenthal nach Marienfelde Der Ort führt seinen Namen ebenso wie das etwa 8 km entfernte Marwalde nach der Mutter des Herrn. (Marienfelde 1339 = Merginfelde, Marwalde um 1400 Marienwald und 1470 Margenwald.) Es ist möglich, daß bei Marienfelde bereits in der Steinzeit eine Siedlung bestand, denn man fand in der Flur ein gebändertes Feuersteinbeil. Im 14. Jahrhundert hatten preußische Familien dort ihre Höfe und bebauten die Äcker; erwähnt werden 1392 Glabune und seine Schwestern Bunde, Margarete und Anna. Zwei Schwestern trugen also zum Zeichen der vollzogenen Abkehr vom Heidentum Namen verehrter heiliger Personen. In dem kleinen Preußendorf war auch bereits ein Gotteshaus aus Stein errichtet, während es sich in anderen Orten Sassens gewöhnlich um Holzbauten handelte. Dieser chorlose Feldsteinbau überdauerte nach der Überlieferung auch Brand und Zerstörung im Jahre 1410, als Jagiellos Heerscharen sich nach der vollkommenen Vernichtung Gilgenburgs auf den Weg zur Belagerung der Marienburg aufmachten.

Wenige Jahre nach der Schlacht beseitigte man in frommem Eifer alle Schaden, baute die Glockenstube im massiven Turm aus, schmückte den Altarraum mit einem gotischen Altartisch, den die zwölf Apostel zierten und ließ einen schlichten Weihwasserstein modellieren. (Dehio-Gall.) Und dies alles geschah zur Ehre Gottes, obwohl das Dorf durch die Kriege 1410 und 1414 schwer gelitten hatte und 1414 nur 16 zinshafte und 27 wüste Hufen vorhanden waren

Um die Mitte des 16. Jahrhunderts arbeiteten in den tiefen Waldungen um Marienfelde einige Aschenbrenner Die gewonnene Pottasche, die man damals vor allem zur Herstellung von Seife benötigte, brachten sie in mühseligen Fahrten nach Elbing. — Heute haben wir es bequemer, denn auf dem Heimweqe können wir in Haasenberg wieder in den Zug steigen, der uns nach Osterode zurückbringt.

Aus „Das Ostpreußenblatt, 17. März 1962 / Seite 10“

 

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